Warum du nicht über dich hinauswachsen musst

Kennst du das? Irgendwann fallen im Sportverein, auf Arbeit oder im Ehrenamt die Worte „wir wollen alle über uns hinauswachsen“ und das einen diese Haltung ja auch irgendwie verbinden würde. In meiner innerlichen Antwort darauf beißt mich dann der Gedanke: „Wieso bin ich denn noch nicht gut genug – so, wie ich bin?“.

Portrait von Jonas Riegel

Zwischen Growth Mindset…

Wir propagieren über systemische Ansätze, dass wir nicht die Menschen in den Systemen verändern sollten, sondern die Probleme der Menschen mit dem System an sich untersuchen und die Systeme adaptieren sollten.

Wenn es aber um uns selbst geht, setzen wir andere Maßstäbe an? Nicht falsch verstehen: Natürlich bin ich dafür, dass wir über eine Verkettung und ein Aufeinanderaufbauen von Lernerfahrungen einen gewissen Bestand an Kompetenzen erweitern können. Dass dies aber als „über sich selbst hinauswachsen“ bezeichnet wird, empfinde ich als eine eher unglückliche Formulierung.

Ich würde dem Druck, der unserer Leistungsgesellschaft entwächst, als von mir ausgemachter Auslöser dieses sprachlichen Konstrukts – dieser Denkhaltung unserer Gesellschaft – gerne entgegenwirken. Um erfolgreich zu sein, muss man doch nicht kontinuierlich andere und geschweige denn sich Selbst übertreffen! Das löst doch nur Ängste aus, nicht gut genug zu sein und befördert eine Ellenbogenkultur.

Ein Beispiel: Wie fühlt es sich an, wenn man sich noch überhaupt unsicher ist, wer man selbst ist und dann die Anforderung kommt, man möge bitte über sich selbst hinauswachsen?! Was soll das bedeuten? Wo fange ich dann an? Dann schaue ich mir ab, dass andere weiterkommen, indem sie Mitmenschen unterminieren und siehe da, meine Selbstfindung steht im Hintergrund und ich baue für meine persönliche Selbstübertreffungsstrategie hauptsächlich auf das Bessersein als andere auf. Kommt mir eigentlich als eine Standard-Kritik am deutschen Bewertungssystem in Schulen bekannt vor.

… und Learning Mindset

Besser ist es doch, meine Potentiale zu kennen, auf Stärken aufzubauen und sich selbst entfalten zu können. Dazu müssten Selbsterkenntnis und -bewusstsein durch Reflexion im Gruppengefüge ermöglicht und Begeisterung für Inhalte durch Erkundung und Experiment gefördert werden. Das Ziel wäre dann – durch gegenseitiges Reflektieren und gemeinsame Arbeit über Selbst- und Fremdwahrnehmung – das kollektive Vorankommen, indem aus Irrtümern gemeinsam gelernt wird.

In den Nuancen unserer Sprache liegt oft die Krux, daher mein Appell: Du musst nicht über dich selbst hinauswachsen, sondern darfst dich selbst entfalten. Dazu hilft dir mit den Systemen und Mustern zu brechen, die deine freie Entwicklung einengen. Übersetze Growth Mindset nicht mit „Wachstumsdenken“ sondern mit „Haltung zur Selbstentfaltung“.