Warum Pfadfinder und Agilisten das Gleiche wollen

Bei den Pfadfindern habe ich gelernt Mensch zu sein und lerne auch heute nie aus. Seit ich sieben Jahre alt bin, bin ich Teil dieser weltweit größten Bildungsbewegung für junge Menschen. Ich durfte mich und meine Potentiale von Kind auf in unzähligen Aktionen freiwillig erkunden, ausprobieren, entfalten und reflektieren.

Wenn eine Pfadfinder-Aktion zu Ende geht, ist das sehr wahrscheinlich mit einem “Blues” verbunden. Das ist nicht nur deswegen, weil man sich mit Abschied und sich Loslösen beschäftigen muss, was immer emotional berührt. Viel schlimmer jedoch ist zu wissen, dass nach einer Aktion, in der man sich manchmal wie in einer idealen Traumwelt befindet, der graue Alltag wieder beginnt. Schule, Uni, Arbeit, Familie.

Ich verstehe jetzt, dass diese Gefühle eine starke Berechtigung haben, denn unser “grauer Alltag” besteht aus dysfunktionalen Systemen, in denen Menschen mit hierarchischer Legitimation durch Bewertung und das Aufzwingen von Absichten zum Objekt Anderer gemacht werden. Jedes Mal, wenn ich mich bei den Pfadfindern wohl und verstanden fühle – Hirnforscher würden das Kohärenzgefühl nennen – muss ich aus einem funktionalen Potentialentfaltungs-System, in dem ich als Subjekt ich Selbst sein darf, wieder zurück in die dysfunktionalen Systeme – und das tut weh.

Agilität ist wie Pfadfinden eine Lebenseinstellung. Eine andere Lebenseinstellung, die versucht, funktionale Systeme zu installieren. Pfadfinden tut dies in einem Umfeld der Bildung von jungen Menschen, Agilität tut dies in einem Umfeld der Wertschöpfung von Organisationen.

Was Pfadfinden und Agilität Gleiches tun

Wie Pfadfinden und Agilität mit sehr ähnlichen Ansätzen versuchen, funktionale Systeme zu installieren, möchte ich anhand folgender Parallelen aufzeigen:

Kategorie Pfadfinden Agilität
Raus aus den Zwängen Non-formelle Bildung, Freiwilligkeit Neues Arbeiten in lernenden Organisationen, Pull-Principle
Potential-Entfaltung Learning by Doing Irren ist menschlich, Irrtumskultur
Leadership Design regelmäßiges, rhythmisches Zusammenkommen bei Aktionen und im Verbandsleben, unterstützende Strukturen Agile Frameworks wie Scrum, Design Thinking, OKR, Lean Startup mit verschiedenen Rhythmen und iterativem Vorgehen
Begegnungen Gruppenstunden, Zeltlager: Morgenrunden, Lagerfeuer, Stuhlkreise, Schlusskreise, Regelmäßige Reflexionen, Arbeit in Kleingruppen Meetings und agile Rituale: Check-In, Check-Out, Kreisarbeit, Regelmäßige Retros, Arbeit in x-funktionalen Teams
Werte & Prinzipien → Bildungsarbeit und Empowerment
→ Offenheit und Freiraum für neue Ideen
→ Gemeinsame Erlebnisse planen und erfahren
→ Gleichberechtigung und „look at the child“
→ Stories bzw. Symbolischer Rahmen
→ Demokratie und Frieden
→ Selbstorganisation und Partizipation
→ Das Arbeitsumfeld positiv gestalten, Mut
→ Sich auf Vorhaben committen und kollaborierend liefern
→ Zusammenarbeit mit dem Kunden
→ Fokusfähigkeit im sicheren Rahmen
→ Respekt

Eine Parallele ist auch die Arbeit mit Visionen: In agil organisierten Teams wird ebenso wie bei den Pfadfindern mit gemeinsamen Visionen gearbeitet und sich für diese gemeinsame Sache verbündet. Dieses „sich verbünden“ basiert auf Freiwilligkeit, niemand wird also gezwungen, irgendwo mitzumachen. Konkret wird das auch bei agilen Methoden: Beispielsweise entwickelte sich aus Kontexten der agilen Softwareentwicklung die heute verbreitete Methode des Open Space, bei dem das Gesetz der zwei Füße gilt. Desweiteren zwingt ein ScrumMaster niemanden, sich an den Scrum Meetings oder Ritualen zu beteiligen – es gilt das Prinzip der Einladung.

Ein wesentlicher Unterschied, den ich in Arbeitskontexten bisher verspürt habe: Im Ehrenamt ist jedes Engagement keine Selbstverständlichkeit, es wird meist eine ganz andere Kultur von Dankbarkeit gelebt. In den seltenen Fällen, in denen Dankbarkeit auf Arbeit wirklich nicht als Gegenrechnung irgendwo zwischen Lob und Lohnzahlung verortet wurde, beobachtete ich eine tatsächlich demütige Haltung gegenüber jeder Leistung und jedes Engagement im Unternehmen wurde aus einer tieferen Überzeugung heraus wertgeschätzt.

Was wir davon mitnehmen können

Erstens: Schauen wir uns die Schule und Lernprozesse unserer Kinder an

Zeigen wir Kindern wie es bei den Pfadfindern läuft und ermöglichen wir ihnen, dort hinzugehen und außerhalb von den Zwängen unserer überalterten Institutionen was fürs Leben zu lernen. Da es aber nicht nur die Pfadfinder sein können, suchen oder bauen wir Systeme, in welchem sich junge Menschen selbst entfalten dürfen. Wenn sich die Kinder und jungen Menschen ihre Lernprozesse dann selbst gestalten und freier entwickeln dürfen, ist für unsere Zukunft schon viel getan.

Zweitens: Schauen wir uns unsere Organisation an: sind wir eine lernende Organisation? Wird uns das selbstbestimmte Lernen in einem funktionalen System ermöglicht?

Suchen wir als Arbeitnehmer:innen unsere Verwirklichung in Organisationen, die Agilität wirklich leben. Sorgen wir dafür, dass mehr Organisationen Agilität wirklich begreifen und lassen wir uns von keinem System mehr vorschreiben, wie wir zu Lernen haben, sondern nehmen wir unsere Lernprozesse und unsere Potentialentfaltung wieder selbst in die Hand.

Drittens: Schauen wir uns regelmäßig uns Selbst an

In unserer Selbstreflexion können wir uns die Frage stellen: Wann handle ich als Objekt und wann darf ich als Subjekt wirklich ich Selbst sein. Ob ich nun zum Beispiel meine Fremdbestimmung durch Social Media, die Erwartungshaltungen meiner Familie an mich oder meine Sozialisierung in gesellschaftlichen Normen reflektiere – die Fragen könnten lauten: Was ist das Maximum an freiem Willen, wonach ich handeln kann? Was bedeutet für mich Freiheit? Wie kann ich meine Potentiale wirklich entfalten?